Papst Franziskus kämpft auf dem Feld der Liturgie ums Zweite Vatikanum

"Alte Messe" auf dem Altenteil – ein Jahr Traditionis custodes

Veröffentlicht am 16.07.2022 um 00:01 Uhr – Lesedauer: 

Vatikanstadt ‐ Vor genau einem Jahr wurde der schlimmste Alptraum der Traditionalisten Wirklichkeit: Papst Franziskus schaffte mit seinem Motu Proprio "Traditionis custodes" die vorkonziliare Liturgie fast ganz ab. Die "Alte Messe" sollte Geschichte sein. Ein Jahr später ist vieles im Fluss und manche Frage offen.

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"Der Karneval ist vorbei!" – so soll Franziskus direkt nach seiner Papstwahl den päpstlichen Zeremonienmeister angeraunzt haben, als der ihm die übliche festliche Kleidung reichen wollte. Stattdessen trat Franziskus mit einem beschwingten "Buona sera!" auf der Benediktionsloggia des Petersdoms zum ersten Mal als Papst vor die Augen der Welt. Am 16. Juli 2021 ist Papst Franziskus der Geduldsfaden endgültig gerissen. Zwar drückte er sich in seinem Motu Proprio Traditionis custodes vornehmer aus als angeblich nach seiner Wahl. "Der Karneval ist vorbei" klingt darin aber dennoch an. "Die von den heiligen Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgierten liturgischen Bücher sind die einzige Ausdrucksform der Lex orandi des Römischen Ritus", beginnt der schlimmste Alptraum der Freunde … ja von was eigentlich?

Seit diesem 16. Juli 2021 ist die Feier der Liturgie nach dem Messbuch von 1962 nicht nur massiv beschnitten; das Motu Proprio hat auch die eingespielten Formulierungen auf einen Schlag obsolet gemacht: 2007 hatte Papst Benedikt XVI. mit dem Motu Proprio Summorum Pontificum die Feier massiv erleichtert. Der eine römische Ritus hatte plötzlich zwei Formen: eine ordentliche Form, die nach der Liturgiereform, und eine außerordentliche Form, eben die nach dem Messbuch von 1962. Selten stellt sich ein Papst so deutlich gegen einer seiner Vorgänger wie Franziskus mit seiner liturgischen Reform: Zwei Formen eines Ritus – einfach abgeschafft.

Aus für "Summorum Pontificum": Die wahre Tradition bestimmt der Papst

Mit seinem Motu Proprio hat Papst Franziskus die Feier der Alten Messe massiv eingeschränkt – ein klares Bekenntnis zur fortschreitenden Dynamik der Tradition: Der Weg der Kirche liege nicht darin, das Wahre im Gestern zu suchen. Eine Analyse.

Wie die vorkonziliare Form denn nun benannt werden soll, ist nicht nur eine terminologische Frage. Die verwendete Terminologie trägt immer auch theologische Wertungen mit sich, gewollt oder ungewollt – selbst dann, wenn man nicht die ahistorische Bezeichnung "Messe aller Zeiten" wählt. Weder ist die vorkonziliare Form wirklich tridentinisch – zu viel wurde seither geändert –, noch ist sie die "Alte Messe", schließlich wird heute nach einem Messbuch aus den 1960ern gefeiert. Das Motu Proprio selbst muss daher umständlich stets von einer "Zelebration nach dem 1962 promulgierten Römischen Messbuch" sprechen – was im Nachgang einige spitzfindige Beobachter unter den Freunden der vorkonziliaren Liturgie bemerken ließ, dass damit eine Feier nach der nur kurz in Gebrauch gewesenen Fassung von 1965 zulässig sein könnte. (Schließlich hat schon Papst Paul VI. 1971 ein Indult gewährt, in England und Wales nach diesem Messbuch zu feiern, und das Motu Proprio bezog sich dem Wortlaut nach ja nur auf die Form von 1962.)

Richtungswechsel im konfliktreichen Umgang mit der Liturgiereform

Mit Traditionis custodes läutete Franziskus einen deutlichen Richtungswechsel im konfliktreichen Umgang mit der Liturgie ein: Er selbst betont in der Einleitung, dass es ihm genauso wie seinen beiden damit befassten Vorgängern darum geht, "Eintracht und Einheit" der Kirche zu fördern. Mit erstaunlicher Langmut führt die Kirche den Dialog mit der über die Liturgiereform ins Schisma abgeglittene Piusbruderschaft, so behutsam, dass selbst der Begriff "Schisma" vermieden wird. Benedikt XVI. hob die Exkommunizierung ihrer Bischöfe auf, Franziskus machte Zugeständnisse in der Sakramentenspendung. Benedikt war es auch, der glaubte, den schwelenden Streit in der Liturgie durch die großzügige Erlaubnis mittels der von ihm erfundenen Figur der "außerordentlichen Form" befrieden zu können, und noch im Frühjahr 2020 hatte Franziskus mit der Promulgation neuer Präfationen und einer Erweiterung des liturgischen Kalenders um nach 1962 kanonisierte Heilige zunächst signalisiert, dass die vorkonziliare Liturgie eine Zukunft habe.

Zugleich wuchs aber anscheinend auch die Unzufriedenheit in der Weltkirche. Im selben Jahr ließ der Papst die Glaubenskongregation eine Umfrage an die Bischöfe der Weltkirche verschicken, um aktuelle Einschätzungen und Erfahrungen mit der vorkonziliaren Liturgie zu erheben. Die Ergebnisse sind größtenteils nicht bekannt; was die deutschen Bischöfe rückgemeldet haben, wird auch auf Anfrage nicht mitgeteilt. Die Antwort der französischen Bischöfe wurde – unfreiwillig – 2021 öffentlich: Dort zeigte sich eine große Unzufriedenheit über Spannungen in den Gemeinden, mangelnde Beteiligung am Leben der Diözesen und bisweilen monarchistische und rigoristische Tendenzen unter den Gläubigen, die die vorkonziliare Form schätzen. Die Neuregelung durch Summorum Pontificum habe die Konflikte nicht aus der Welt geschafft, aber immerhin beruhigt. De facto gebe es durch das Motu Proprio einen "Bi-Ritualismus" in der Kirche. "Die Eucharistie, die verbinden soll, trennt", drückte es ein Bischof aus.

Einschneidende Maßnahmen beschränken die vorkonziliare Liturgie

Franziskus berief sich in Traditionis custodes auf diese Umfrage, ohne auf die Ergebnisse einzugehen. Die Maßnahmen sind einschneidend: Die Bischöfe haben darauf zu achten, dass die vorkonziliare Messe nicht mit einer Ablehnung des Zweiten Vatikanischen Konzils einhergeht, die Errichtung neuer Gruppen zur Feier ist nicht mehr gestattet, Priester, die nach dem Messbuch von 1962 zelebrieren, müssen sich das genehmigen lassen, nach Veröffentlichung des Motu Proprios geweihte Priester brauchen dafür die Genehmigung ihres Bischofs, der vorher den Heiligen Stuhl dazu konsultieren muss, in Pfarrkirchen darf nur noch nach der konziliaren Liturgie zelebriert werden.

Ein lateinisches Messbuch ist an der Stelle des Halleluja aufgeschlagen.
Bild: ©adobestock/Kent Johansson (Archivbild)

Nach Hallelujasingen war in traditionalistischen Kreisen nach Traditionis custodes kaum jemandem zumute.

Typisch für Papst Franziskus ist auch die Art der Inkraftsetzung: Den allgemeinen Regeln nach treten universalkirchliche Gesetze drei Monate nach ihrer Veröffentlichung in Kraft. Für Traditionis custodes ordnete der Papst das sofortige Inkrafttreten an – von einem Tag auf den anderen mussten die neuen Regeln umgesetzt werden, mit den entsprechenden Unklarheiten. Die sehr unterschiedlich enge und weite Auslegung in verschiedenen Diözesen zeigte, dass keineswegs Einmütigkeit im Bischofskollegium herrscht.

Besonders weit in den Einschränkungen ging das Bistum Rom, das die Feier der vorkonziliaren Messe am österlichen Triduum verbot und genau festlegte, wann und wo die im Dekret "rito antico" (alter Ritus) genannte Liturgie gefeiert werden darf. Da im Motu Proprio nur vom Messbuch die Rede war, ging man in Rom davon aus, dass damit alle anderen liturgischen Bücher und damit andere Sakramente und Riten als die Eucharistie nur noch in der konziliaren Form gefeiert werden dürfen.

Unterschiedliche Reaktionen in der Weltkirche

Die Nordische Bischofskonferenz äußerte deutliche Kritik und zweifelte an der Wirksamkeit von Verboten. Ohne Worte der Kritik, aber mit kirchenrechtlicher Flexibilität milderte das Erzbistum Freiburg das Motu Proprio mit einer deutlich weiteren Auslegung als in Rom ab. In seinem Ausführungsdekret legte Erzbischof Stephan Burger fest, dass im Prinzip die alten Regeln weitergelten. Die bislang bestehenden vorkonziliaren Messfeiern in Pfarrkirchen dispensierte er von den Regeln von Traditionis custodes, so dass dort die Feier – bis heute – weiterhin möglich ist, und auch in der Frage der anderen Sakramente wandte der Freiburger Erzbischof eine deutlich andere Interpretation an: "Das MP 'Traditionis Custodes' befasst sich nur mit der 'alten' Messfeier, nicht mit der Spendung anderer Sakramente (oder Sakramentalien) nach der 'alten' Ordnung", heißt es in einer Fußnote zum Dekret. Damit würden die entsprechenden Erlaubnisse aus Summorum Pontificum weitergelten.

Besondere Sympathie für die vorkonziliare Messe hat Erzbischof Burger bislang nicht an den Tag gelegt; aus der liberaleren Auslegung und Anwendung spricht eher der studierte Kirchenrechtler – vor seiner Wahl zum Erzbischof war Burger Offizial des Erzbistums – als der Traditionalist: Ausnahmen und Rechte beschränkende Gesetze sind eng auszulegen, Bischöfe dürfen auch von universalen Disziplinargesetzen dispensieren, ein späteres Gesetz hebt ein früheres ganz oder teilweise auf, wenn es das ausdrücklich anordnet. Das im September unterschriebene und Ende Oktober veröffentlichte Freiburger Dekret, das erste seiner Art in den deutschen Diözesen, war zu diesem Zeitpunkt also rechtlich kaum anzugreifen.

Hin zur liturgischen Einheit, weg von der Alten Messe

Mit Klarstellungen zum Motu Proprio "Traditionis Custodes" zeigt die Gottesdienstkongregation, wohin die Reise gehen soll: Die vorkonziliare Liturgie soll zur absoluten Ausnahme werden und letztlich verschwinden. Dafür nimmt der Vatikan auch neue Zerwürfnisse in Kauf.

Doch der Vatikan legte nach, genauer: Der Präfekt der damaligen Liturgiekongregation, Erzbischof Arthur Roche, legte kurz vor Weihnachten eine Liste an "Responsa ad dubia" vor, Antworten auf Fragen zur Auslegung und Anwendung. Das ist eine durchaus übliche Praxis der kirchlichen Rechtsfortbildung. Überraschend war, dass die Auslegungen deutlich über den Wortlaut des Motu Proprios hinausgingen, ohne dass die Rechtsnatur der Responsa klar ist. Ein päpstliches Gesetz sind sie jedenfalls nicht. Damit fallen sie eher in die Kategorie der Instruktionen, die bestehendes Gesetz nur auslegen und ausfüllen, nicht aber neues Recht schaffen können. Von dem Verbot der Feier in Pfarrkirchen sollte jetzt nur noch im äußersten Fall dispensiert werden können, und zwar nicht vom eigentlich zuständigen Diözesanbischof, sondern von der Gottesdienstkongregation. Von der von Franziskus behaupteten Stärkung des Bischofs als "Leiter, Förderer und Wächter" des liturgischen Lebens in seiner Diözese blieb noch weniger übrig. Die Responsa sehen Summorum Pontificum in Gänze außer Kraft gesetzt, obwohl ein entsprechender Gesetzesbefehl in Traditionis custodes fehlt. Vorkonziliare liturgische Bücher für andere Sakramente und Sakramentalien dürfen nach dem Willen der Gottesdienstkongregation nur in Personalpfarreien verwendet werden, die wiederum nicht neu errichtet werden dürfen – eine große Einschränkung im deutschsprachigen Raum, wo es nur im Bistum Chur entsprechende Personalpfarreien gibt.

Plötzlich war mit der Veröffentlichung der Responsa auch eine lateinische Fassung von Traditionis custodis verfügbar – und wo in den zuerst veröffentlichten Übersetzungen bei der Zelebrationserlaubnis für nach Juli 2021 geweihte Priester der Bischof den Heiligen Stuhl lediglich zu "konsultieren" hatte, stand im nachgereichten lateinischen "Originaltext" jetzt plötzlich "licentiam rogabit": der Bischof hat um Erlaubnis zu bitten. "Dabei handelt es sich nicht nur um eine beratende Stellungnahme, sondern um eine notwendige Ermächtigung, die dem Diözesanbischof von der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung erteilt wird", erläutert nun die Kongregation ohne Interpretationsspielraum. Die kühle Reaktion aus traditionalistischen Kreisen war erwartbar.

Kaum Umsetzungsdekrete in den deutschen Diözesen

In Spannung zu den Responsa steht in Deutschland nur das Freiburger Dekret. Noch in dieser Woche hieß es aus dem Ordinariat, dass ein neues Statut in Arbeit sei. Die Dekrete in Passau, Regensburg und Dresden-Meißen haben keine offensichtlichen Reibungspunkte mit den verschärften Regeln. Während die ersten beiden Diözesen auf die unmittelbare Umsetzung abheben und vor allem die in Traditionis custodis geforderte Benennung von Gottesdienstorten und die Benennung eines diözesanen Beauftragten für die vorkonziliare Form vornehmen, geht das Dresdner Dekret noch einen Schritt weiter: Bischof Heinrich Timmerevers hat damit einen Bericht über die Entwicklung und Auswirkungen der Feier der vorkonziliaren Liturgie angefordert. Demnach soll der bischöfliche Beauftragte für die vorkonziliare Liturgie bis 30. Juni 2023 einen schriftlichen Bericht "zur Entwicklung der Gottesdienstgemeinde sowie zu wesentlichen pastoralen Aspekten oder Schwierigkeiten" vorlegen. Dabei sei ausdrücklich darauf einzugehen, ob unter den Gläubigen Tendenzen erkennbar seien, die "die Gültigkeit und die Legitimität der Liturgiereform, der Bestimmungen des Zweiten Vatikanischen Konzils und des Lehramtes der Päpste" in Frage stellten. "Relevante Vorkommnisse" sind durch den Beauftragten oder den Ortspfarrer dem Ordinarius "zeitnah" zur Kenntnis zu geben; dies gelte besonders immer dann, "wenn es zu Ärgernis oder Verwirrung unter den Gläubigen gekommen ist", so das Dekret.

Bischof Meier bei Papst Franziskus
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani (Archivbild)

Papst Franziskus empfängt Bertram Meier, Bischof von Augsburg, zu einer Privataudienz am 1. Juli 2022 im Vatikan. Ob die Weihe von Diakonen der Petrusbruderschaft Thema war, ist nicht bekannt – ohnehin widersprach sie keinen liturgischen Gesetzen.

Das Freiburger und das Regensburger Dekret firmieren als Übergangsdekrete, bis eine auf Ebene der Bischofskonferenz getroffene einheitliche Regelung in Kraft tritt. Dort scheint man aber keine besondere Eile zu haben. "Zu Ihrer Frage kann ich Ihnen derzeit keine Auskunft geben", heißt es knapp und kühl auf Anfrage bei der Deutschen Bischofskonferenz ohne alle weiteren Details. Vielleicht ist der Bedarf nach Regelungen auch gering; Konflikte um die Umsetzung von Traditionis custodes sind aus deutschen Diözesen im vergangenen Jahr nicht an die Öffentlichkeit gekommen. In die Schlagzeilen kam nur der Augsburger Bischof Bertram Meier, der Ende Mai, während in Stuttgart der Katholikentag stattfand, in Lindenberg im Allgäu Priesteramtskandidaten der Petrusbruderschaft in der vorkonziliaren Form zu Diakonen weihte. Als erster amtierender deutscher Diözesanbischof, wie die Bruderschaft stolz verkündete.

Petrusbrüder ausgenommen

Die Gemeinschaft, die sich von der Piusbruderschaft getrennt hatte, um in Gemeinschaft mit dem Papst zu bleiben, kann wie andere traditionalistische Gemeinschaften weitgehend unbehelligt wie zuvor agieren. Traditionis custodes legt für seine Umsetzung eine doppelte Zuständigkeit fest: Das heutige Gottesdienstdikasterium ist für die Umsetzung in den Diözesen zuständig, das Ordensdikasterium für die in Orden und Gemeinschaften – und bislang hat sich das Ordensdikasterium zum Thema noch nicht geäußert, insbesondere hat es sich nicht den Responsa des Gottesdienstdikasteriums angeschlossen. Im Februar, also vor der Diakonenweihe, stellte Papst Franziskus für die Petrusbrüder auch explizit in einem Dekret klar, dass sie keinerlei Einschränkung unterliegen. Gemäß dem Dekret wird allen Mitgliedern der Bruderschaft die Befugnis erteilt, "das Messopfer zu feiern, die Sakramente und andere heilige Riten zu spenden und das Offizium zu verrichten, gemäß der jeweiligen Editio typica der liturgischen Bücher, die im Jahr 1962 in Kraft waren, d.h. dem Missale, dem Rituale, dem Pontifikale und dem Brevier". Dies gelte in den eigenen Kirchen und Oratorien. Für andere öffentliche Feiern bedarf es einer Zustimmung des Ortsordinarius, also in der Regel des Bischofs oder Generalvikars. "Ungeachtet dessen empfiehlt der Heilige Vater, so weit wie möglich auch die Bestimmungen des Motu proprio Traditionis Custodes zu berücksichtigen", heißt es im Dekret weiter.

Franziskus verteidigt das Konzil gegen die Restauration

Im Herzen der Lehre des Zweiten Vatikanums steht die Liturgie – davon ist Papst Franziskus überzeugt. Mit seinem Schreiben "Desidero desideravi" untermauert er sein Machtwort zur Alten Messe theologisch – und zeigt, was den Kern seines päpstliches Programms ausmacht.

Das für viele überraschende Dekret leutete aber kein allgemeines Tauwetter an. Über Monate schärfte Liturgiepräfekt Roche in Interviews in zahlreichen Medien in aller Welt die Linie des Papstes ein: Das Konzil schützen, liturgische Einheit bewahren. Dabei deutete er bereits früh ein päpstliches Dokument an, das Ende Juni erschienen ist, kurz vor dem Jahrestag von Traditionis custodes. In seinem Apostolischen Schreiben Desiderio desideravi legte Franziskus keine neuen Regeln fest, sondern wandte sich an alle Gläubigen, um die Bedeutung liturgischer Bildung und der Liturgiereform für die Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils einzuschärfen. Die Form der Liturgie sei keine bloß ästhetische Frage, sondern in erster Linie ekklesiologischer Natur: "Ich verstehe nicht, wie man sagen kann, dass man die Gültigkeit des Konzils anerkennt – obwohl ich mich ein wenig wundere, dass ein Katholik sich anmaßen kann, dies nicht zu tun – und nicht die Liturgiereform akzeptieren kann, die aus Sacrosanctum Concilium hervorgegangen ist und die die Realität der Liturgie in enger Verbindung mit der Vision der Kirche zum Ausdruck bringt, die in Lumen Gentium auf bewundernswerte Weise beschrieben wurde", betonte der Papst. Nach dem juristisch-kalten Motu Proprio legte Franziskus mit Desiderio desideravi eine umfassende theologische Begründung seines liturgischen Programms nach, die kaum einen Spielraum für Lockerungen der Einschränkungen für die vorkonziliare Liturgie mehr lässt – und damit die Fronten in den "Liturgiekriegen", wie es bisweilen in traditionalistischen Publikationen heißt, eher verhärten als die erwünschte und erflehte Eintracht und Einheit zu erzeugen.

Vielfalt der Riten – nur die vorkonziliare Form darf nicht sein

Liturgierechtlich dürfte damit nicht mehr mit großen Überraschungen zu rechnen sein – vorbehaltlich der Unkalkulierbarkeit, die diesem Pontifikat eigen ist und sich schon in dem großzügigen Dekret für die Petrusbruderschaft zeigte. Liturgietheologisch bleiben aber noch Leerstellen: So überzeugend die Argumentation ist, dass die Frage nach der Form der Liturgie nicht nur ästhetisch ist, sondern konstitutiv für das Kirchenverständnis, so sehr fällt doch auch auf, dass die Fokussierung auf den Römischen Ritus die immer noch gültige und regulär erlaubte Vielfalt der Liturgie ausblendet. Erst kürzlich hat Franziskus auf dem Petersplatz eine Messe nach dem "Römischen Messritus für die Diözesen von Zaire" gefeiert und die 1988 promulgierte Variante des Römischen Ritus erneut als gutes Beispiel für gelungene Inkulturation gelobt und als mögliches Vorbild für einen Amazonas-Ritus genannt. Die Personalordinariate der aus der anglikanischen Kirche Übergetretenenen dürfen liturgische Bücher aus der anglikanischen Tradition verwenden. Der mozarabische Ritus in Kastilien und der ambrosianische Ritus in der Kirchenprovinz Mailand bestehen fort. Dazu kommen die früher "Rituskirchen" genannten unierten Ostkirchen, deren göttliche Liturgie weit größere Ähnlichkeit zur vorkonziliaren Form als zum heute gültigen Römischen Ritus aufweist.

Papst Franziskus feiert Messe mit Mitgliedern der kongolesischen Gemeinde in Rom
Bild: ©KNA/Vatican Media/Romano Siciliani (Archivbild)

Papst Franziskus und Mitglieder der kongolesischen Gemeinde Rom in traditioneller Kleidung feiern die Messe nach zairischem Messritus am 3. Juli 2022 im Petersdom im Vatikan.

Wie lassen sich diese mit keiner Silbe in Traditionis custodes und Desiderio desideravi erwähnten vielen Formen in Einheit mit Rom mit dem strengen Grundsatz des "lex orandi, lex credendi" vereinbaren, den Franziskus mit Blick auf die vorkonziliare Liturgie so stark macht? Und im Umkehrschluss: Wenn so große liturgische Vielfalt anscheinend in Übereinstimmung mit der Ekklesiologie des Zweiten Vatikanischen Konzils möglich ist – eröffnet das nicht Reformperspektiven, um die vorkonziliare Liturgie ekklesiologisch auf den Stand der Gegenwart zu bringen? Ein Jahr nach Traditionis custodes sind diese Fragen so offen wie der erhoffte liturgische Frieden in weiter Ferne.

Von Felix Neumann